Kathedrale
des Leben – Uralte Eiche auf einem Friedhof
Die Gebete
waren verklungen. Sie hatten ihn in die Hände des Herrn zurück
gegeben. „Von Erde bist Du genommen, zu Erde sollst Du werden.“
Das hatte der Pfarrer gesagt. Einer der Trauergäste dachte: Wenn sie
ihn nun wirklich mit seinem Grab dem Herrn überlassen? Wie würde er
das Grab gestalten? Was würde seine Natur auf dem Grab wachsen
lassen? Ein Grabmal aus Marmor oder eine Platte aus rotem Granit,
hochglanzpoliert? Doch das waren unmögliche Gedanken. Er
verscheuchte sie. Die Hinterbliebenen würden das Grab schon richtig
gestalten. Würdig, wie alle anderen Gräber auch, schon wegen der
Leute und wegen der Friedhofsordnung.
Alter
Grabstein als Treppenstufe
Name auf dem Foto gelöscht
Grabstein
als Treppenstufe
Aber die
Gedanken wollten nicht weichen. Können Menschen etwas schaffen, was
die Würde der Schöpfung übertrifft? Und wie lange bliebe diese
Würde dann erhalten? 20 Jahre – die übliche Liegezeit? Aber die
kann man ja verlängern. Doch danach? Nachdenklich verließ er den
Friedhof. Da fiel sein Blick auf ein paar Stufen zum kleinen Fluss.
Alte Grabmale. Man hatte sie zum Wasserholen gelegt. Auf einem stand
gemeißelt: Hier ruht in Gott
mein lieber Gatte u. Vater.
1908 war er gestorben, vor über hundert Jahren. Doch der Stein hatte
unendliche Zeiten tief im Gebirge gelegen. Dann wurde er gebrochen
und zum Grabmal. Wie lange müsste er noch als Stufe zum Wasserholen
dienen? Und was war mit der Würde?
Die
Natur würde das Grab ergrünen lassen
Der solche
Gedanken hatte, war Biologe. Biologie ist die Wissenschaft vom Leben.
Leben ist mit dem Sterben so eng verknüpft wie Bild und Spiegelbild.
Neues kann nur kommen, wenn Altes geht. Das wusste er. Und er wusste
auch, was die Natur mit dem frischen Grab machen würde. Sie würde
es ergrünen lassen. Erst mit Pionierpflanzen, vielleicht mit
Klatschmohn und Kamille oder Löwenzahn, mit Vogelmiere oder
Ackerstiefmütterchen, sicher auch mit Gras oder Melde. Auf jeden
Fall mit Pflanzen, die nicht mehr Unkräuter genannt werden dürfen,
aber trotzdem bekämpft werden. Umsonst zwar, denn tausende ihrer
Samenkörner warten im Boden darauf, endlich keimen zu können, wenn
sie beim Jäten mit etwas Erde wieder ans Licht kommen. Klatschmohn
bleibt sogar hundert Jahre keimfähig.
Ein
Eichensämling, ganz unscheinbar zwar, aber könnte leicht 500 Jahre
wachsen. Was wäre im Jahre 2515 mit dem Grab? Was mit der Würde?
Bäume
und Sträucher würden kommen
Im zweiten
Jahr würden mehrjährige Kräuter erscheinen, wie Weidenröschen
oder Fingerhut, Beifuß oder Ampfer oder Brennnesseln. Es kämen
Sträucher wie Heckenrosen und Holunder. Aber auch Birken, Ahorn
oder Linden kämen als Samen angeflogen. Vielleicht würde ein
Eichhörnchen oder ein Eichelhäher seinen Wintervorrat an Eicheln
und Nüssen vergessen. Dann würden sie keimen und wachsen und die
Bäumchen mit den Jahren zu Bäumen werden. Ganz normal wäre diese
Sukzession und kein Zweifel: Gott würde Bäume wachsen lassen.
Teuer und tot
Sauber
und ordentlich – aber vergewaltigt und tot
Am nächsten
Tag besuchte er mit mehr Zeit noch einmal den Friedhof. Doch was er
sah und hörte, war schlimm. Die Wege waren asphaltiert – sauber,
aber tot. Wo noch nicht, fehlte ebenfalls jedes Kräutlein.
Ausgegrast oder weg gespritzt – sauber, aber tot. Alle Gräber in
Reih und Glied, aktenfähig, exakt in Stein gefasst oder ganz unter
polierten Platten begraben. Hochglänzende, teure Sauberkeit, aber
tot. Wo noch nackte Erde war, hatte man sie penibel geharkt oder
unter Zierkies versteckt. Ordentlich, aber tot. Zwar standen überall
Blumen in Vasen und Schalen, hochgezüchtet und viele Exoten
darunter. Fremdlinge, die einem nur leidtun können. Sie leben, um
auf dem Friedhof zu sterben. Sehr selten heimische Pflanzen. Alles
mit hohem Aufwand an Dünger, Spritzmitteln und Energie produziert.
Umweltbelastend, nur weil es uns gefällt und wegen der Leute und der
Würde. Als Lebensraum und Nahrung für unsere bedrängte Tierwelt
völlig unbrauchbar. Leute schleppen schwere Gießkannen. Daher das
Treppchen aus ausgedienten Grabsteinen hinunter zum kleinen Fluss.
Von früher zwar, denn jetzt gibt es Wasserhähne. Ein Fortschritt,
denn ein Kult des Gießens muss sein, um diese Scheinnatur wenigsten
vorübergehend zu erhalten. Ihr trauriges Ende aber will niemand
sehen. Er sah es trotzdem: in dem gut versteckten großen
Abfallkasten. Dabei blühen Blumen, um Frucht zu tragen. Spüren wir
nicht mehr, wie sehr wir die Natur vergewaltigen?
Endstation
Abfallkasten
Zwei
Birkenkätzchen-Schuppen und vier ultraleichte Flugsamen
Der
Dreck der Birke – ein Wunder
Eine ältere
Frau sucht ein paar Herbstblättchen aus den Begonien. „Jeden
Herbst dieser Dreck“, sagt sie geplagt. Aber früher war es noch
schlimmer. Sie deutet auf einen Baumstumpf neben dem Grab. Der Rest
einer etwa 40jährigen Birke, man erkennt es noch. Es ist wohl das
Grab ihres verunglückten Sohnes. Hier hat die Natur keine Chance,
jedenfalls noch nicht, auf Dauer aber schon. Er nickt nur schweigend
und wagte nicht zu sagen, was er dachte: Der „Dreck“, das waren
die Samen der Birke, winzige Segelflieger, von den Botanikern
Flügelnüsse genannt und so leicht, dass zweitausend nur ein gutes
Gramm wiegen. Jahr für Jahr produziert sie davon viele Millionen,
die der Wind verweht und jeder von ihnen kann eine prächtige neue
Birke werden. Der Dreck ist ein Wunder.
Baumkronen
- Kathedralen des Lebens
Doch der
Friedhof war groß und der neue ging in den alten über. Hatten sie
früher alles besser gemacht? Oder fehlte mit den Jahren nur die
liebevolle Pflege? Oder die Kraft oder das Geld, um die Natur zu
verdrängen? Hier jedenfalls standen Bäume. Ein ausladender Ahorn
und eine mächtige Eiche. Ihre Kronen warfen kühle Schatten. Er sah
hinauf. Wie die Kuppel eines Domes, eine Kathedrale des Lebens,
dachte er und fühlte ihre Würde. Diese Würde war anders, nicht
penibel und auftrumpfend, sondern mächtig und stark. Es war die
Würde der Natur. Noch fühlen wir sie, wie gut.
Harmlose
Wespenart in Grableuchte
In den
Kronen gurrten Tauben. Unten scharrte eine Amsel im Laub. Ein
armdicker Efeustrang schien das alte Grabmal zu stützen. Eine
Kreuzspinne saß regungslos in ihrem Radnetz. Daneben breitete sich
Immergrün aus. Hummeln besuchten seine blauen Blüten. Sie flogen
immer dieselbe Stelle unter dem Efeu an. Er wusste, dort war ihr
Nest, aber auch, dass alle einheimischen Hummelarten auf der Roten
Liste stehen und manche schon nicht mehr zu finden sind. Aber hier
blieben sie unbehelligt. In einer Grableuchte aus Bronze verschwand
eine Feldwespe. Er öffnete vorsichtig das Türchen und sah ihre Wabe
aus Papier. Ein kleines Meisterwerk. Zwischen den Grabeinfassungen
waren junge Ahornbäumchen aufgelaufen und sogar einen Birnenwildling
fand er. Die Geschichte des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im
Havelland fiel ihm ein. Heute wirklich undenkbar? Denken zumindest
darf man sie noch.
Friedhofsmauer
– Paradies für Flechten und Moose
Paradies
aus zweiter Hand
Noch weiter
hinten kam er an die Friedhofsmauer. Sandstein, stark verwittert, der
Kalkmörtel bröckelte aus den Fugen. Das Alter sah man ihr an, aber
sie stand und sie lebte. Auf der Mauerkrone kleine Moospolster und
Flechten dicht an dicht, Mischwesen aus Pilzen und Algen, die fast
nur von Luft und Wasser leben. Mindestens fünf verschiedene Arten
zählte er. Eine Eidechse huschte davon, ein Tausendfüßler
verschwand unter einer Mauerraute. Das ist ein bescheidener Farn, der
sich mit einem Schöllkraut eine Mauerritze teilte. Das Schöllkraut,
das mit dem gelben Milchsaft, hatten Ameisen als Samen
herangeschleppt. An einer Stelle hing wilder Wein über die Mauer.
Schöllkraut
und Mauerrauten (Farn) teilen sich eine Mauerritze
Ganz kurz
nur ließ sich ein Tagpfauenauge auf einer Kanadischen Goldrute, die
dort aufgelaufen war. Am Anfang war das Tagpfauenauge ein winziges
Ei, dann eine Raupe, dann eine Puppe und aus der ist es geschlüpft.
Ein Wunder und ein Lehrstück für unseren Hochmut. Niemand kann das
nachmachen. Doch das Tagpfauenauge kann nur leben, wenn seine Raupen
Brennnesseln als Futter finden. Vielleicht die paar Pflanzen, die man
hinter der Abfallkiste übersehen hatte. Dort hatte jemand
einen Nistkasten aufgehängt. Die Jungen waren wohl schon
ausgeflogen, aber das Flugloch zeigte noch deutliche Spuren. Hier war
der Friedhof zu einem Paradies aus zweiter Hand geworden.
Tagpfauenauge
auf Kanadischer Goldrute
Für
wechselwarme Eidechsen sind sonnige Stellen und polierte Steine auf
dem Friedhof ein Paradies. Die Steine heizen sich auf und halten die
Wärme wie eine Wärmeplatte.
Drei
Eidechsen lauern auf der Grabumrandung aus Marmor, eine weitere liegt
rechts unter den Blumen. Sie jagen fette schwärmende Ameisen.
Niemals
aufgeben
Er wollte
die Mauerraute noch fotografieren. Das sah ein alter Mann, kam näher
und meinte: Die Mauer müsste
auch mal wieder in Ordnung gebracht werden. Früher habe ich
das gemacht. Aber jetzt kann
ich nicht mehr so. Was sollte
er dazu sagen? Er nickte nur und dachte: Gott sei Dank, er kann nicht
mehr so! Entmutigt verließ er den Friedhof. Was konnte er schon
ändern? Beim Hinausgehen sah er, dass einige Ahornsamen auf dem
Zierkies eines Grabes gelandet waren und dachte: niemals sollte man
aufgeben und es immer wieder versuchen. Die Natur gibt ja auch nicht
auf. Sie macht uns immer neue Angebote, auch wenn wir sie immer
wieder ausschlagen. Aber sie hat den längeren Atem. Es stimmt: Gott
würde Bäume wachsen lassen!
Dr.
Friedrich Buer
9.
August 2015